Interview mit Prof. Schlee

Nach der Rezension seines provokanten Buches habe ich Prof. Jörg Schlee einige Fragen per E-Mail gestellt, die er ausführlich beantwortet hat.

1. Sehr geehrter Herr Prof. Schlee, Ende letzten Jahres erschien ihr Buch „Schulentwicklung gescheitert“. Wie kam es zu diesem Buch?

Sie stellen diese Frage einer Person, die bei der Thematik „Schulentwicklung“ gewissermaßen vom Paulus zum Saulus mutierte. Denn anfangs war ich von der Idee des Institutionellen Schulentwicklungsprogramms (ISP) im Sinne von Dalin & Rolff (1990) sehr angetan, eigentlich regelrecht begeistert. Dann aber bekam ich Kontakt zu so genannten Schulentwicklungsmoderatoren. Zunächst in Bremen, dann in Schleswig-Holstein. Deren Praxisberichte ließen in mir eine Skepsis keimen. Daraufhin habe ich die damals noch überschaubare Literatur zur Schulentwicklung noch einmal kritisch gegen gelesen. Und zwar mit dem Blick und dem Anspruch eines Sozialwissenschaftlers. Ich war erstaunt, auf wie viele Unklarheiten und Ungereimtheiten ich dabei stieß. Als ich diese meinem Oldenburger Kollegen Hilbert Meyer, der gerade in den Vorbereitungen zu einer Schulleitertagung steckte, erläutern wollte, mochte er nichts davon hören. Statt dessen gab er mir den Ratschlag, selbst ein Buch zu dieser Thematik zu schreiben. Damals war ich über seine Reaktion enttäuscht. Ich hätte gern mit ihm diskutiert. Heute bin ich ihm sehr dankbar dafür. Ohne seinen Anstoß wäre das Buch nicht entstanden. Trotz der kleinen Geplänkel mit ihm, die ich ihm in dem Buch widme, gehört er unbedingt zu den von mir geschätzten Kollegen.

 2. In Ihrem Buch kritisieren Sie „Schulentwicklung“ grundlegend. Welche Reaktionen haben Sie seither (auch bei öffentlichen Auftritten) erhalten?

Dass die Kritik so grundlegend ausfällt, hat wenig mit mir zu tun. Meines Erachtens müsste jeder Wissenschaftler oder Praktiker mit etwas theoretischem Interesse, logischen Ansprüchen und empirischen Erfahrungen bei einer kritischen Analyse der Schulentwicklungsliteratur zu vergleichbaren Resultaten kommen. Daher halte ich es für einen Skandal, dass es so lange dauern musste, die Schwächen der Schulentwicklungsidee öffentlich darzustellen. Ich fühlte mich wirklich an Hans Christian Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern erinnert. Aber im Gegensatz zu diesem Märchen, höre ich bislang fast nichts von irgendwelchen Reaktionen. Ich führe das darauf zurück, dass Schulleiterinnen und Schulleiter, denen ich eigentlich den Rücken stärken möchte, kaum Zeit haben, um Fachliteratur zu lesen. – Allerdings gab es im vergangenen Herbst eine Diskussion mit Mitgliedern des „Netzwerkes Schulentwicklung„. Obwohl die entsprechende Tagung den Titel „Revision der Schulentwicklung“ trug, waren die meisten Tagungsteilnehmer völlig erstaunt, dass man die Schulentwicklungsidee kritisieren könne. Ihre Reaktion bestand hauptsächlich aus Ungläubigkeit und Ratlosigkeit, nicht aber aus argumentativem Widerspruch. Daran kann man erkennen, dass der Begriff Schulentwicklung wegen seines inflationären Gebrauchs nicht mehr in Frage gestellt wird.

 3. Vor allem mit Hans-Günter Rolffs Ansatz der Schulentwicklung beschäftigen Sie sich im Buch sehr stark. Was sagen Sie zu dem Vorwurf, dass in Ihrem Buch auch ein kleiner persönlicher Angriff gegen H.-G. Rolff steckt?

Ideen und Konzepte entstehen nicht aus dem Nichts, sondern haben Autoren, die diese zu verantworten haben. Ich greife Hans Günter Rolff nicht persönlich an, sondern ich setze mich mit seinen Ausführungen und mit seinen Modellen mit sachlich-logischen Argumenten auseinander. Dies aber sehr intensiv, da haben Sie recht. Zumal er in der Schulentwicklungsdebatte eine zentrale Rolle spielt. Ohne ihn wäre sie nie zustande gekommen. Dabei stoße ich – wie ich im Buch ausführlich darstelle – nicht nur auf viele Schwächen, Unklarheiten und Leerformeln, sondern leider auch auf gravierende Widersprüche. Ich kann nicht erkennen, dass der Kollege Rolff in der Schulentwicklungsdebatte einen bestimmten, in sich stimmigen und überprüfbaren Ansatz vertritt – wie Sie in Ihrer Frage unterstellen. Vielmehr wechselt er seine Sichtweise und damit auch die Bedeutung von „Schulentwicklung“ mehrmals. Außerdem ist es meines Erachtens so, dass er mal diese Schwerpunkte, mal jene Schwerpunkte anspricht. Und was ich am meisten kritisiere, ist die Tatsache, dass es in seinen zahlreichen Veröffentlichungen viele Stellen gibt, in denen er die Schwächen der Schulentwicklungsidee anspricht, ihre Theorielosigkeit zugibt, ihre Begriffsschwächen anerkennt, ihre empirische Folgenlosigkeit eingesteht und kurze Zeit danach an anderen Stellen ihre Vorteile wiederum vollmundig anpreist. Bei einem derartigen Vorgehen ist meines Erachtens die Grenze der Redlichkeit überschritten. Man kann sich als Wissenschaftler irren. Wissenschaft lebt sogar vom Irrtum. Man kann auch auf ein falsches Pferd setzen. Aber dann soll man, wenn man dies erkannt hat, den Fehler auch eingestehen und nicht mit nebulösen Vokabeln oder immunisierenden Formulierungen verschleiern. Zumal, wenn von solchen Kaschierungen direkt und/oder indirekt die Tätigkeit vieler Lehrkräfte und das Wohl vieler Schüler abhängen. Solch ein Verhalten halte ich für unanständig – und deute das auch an, dass sehen Sie richtig, aber belege mein Urteil mit Argumenten.

 4. „Schulentwicklungsberater“ aus Landesinstituten werden von Schulleitern angefordert und fördern (nicht immer, aber doch überwiegend) die Arbeitszufriedenheit in den Kollegien. Wenn in diesen Arbeitszusammenhängen die schulische Arbeit z.B. nach Rolff zwischen OE, UE, PE differenziert wird, wenn die Beteiligten gemeinsam einem Qualitätsbegriff zustimmen oder ein Schulprogramm erarbeiten und anschließend die deutliche Mehrheit eines Kollegiums zufriedener in der Schule arbeitet, handelt es sich dann um einen „falsch positiven“ Fall? Wie ließe sich das aus Ihrer Sicht, lieber Herr Schlee, erklären, dass es zuweilen doch ganz pragmatisch funktioniert?

Vielleicht erinnern Sie sich, dass ich in meinem Buch nicht konkrete Vorhaben vor Ort kritisiert habe. Ich habe auch ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass ich gemeinsame Gespräche und Klärungen zu Bestandsaufnahmen oder Planungen, wenn sie unter guten kommunikativen Bedingungen statt finden, in der Regel für günstig halte. Nicht zuletzt werden der Sinn und der Erfolg solcher gemeinsamen Klärungen und Beratungen durch die Praxis der Schulentwicklungsberater in Schleswig-Holstein bestätigt. Deren „Kunden“ zeigen glücklicherweise eine große Zufriedenheit. Aber bitte bedenken Sie dabei, dass sich diese gegenwärtige Praxis der Schulentwicklungsberatung deutlich von der Praxis einer Schulentwicklungsmoderation unterscheidet, die vor knapp 20 Jahren unter der Federführung von Hans-Günter Rolff in Schleswig-Holstein eingeführt worden war. Mit anderen Worten: Nicht Schulleiterinnen oder Schulleiter, nicht Lehrkräfte kritisiere ich in ihren Vorhaben, sondern meine Kollegen in den Hochschulen, die ihnen hierfür keine tauglichen und überprüften Konzepte anbieten können, sondern überwiegend mit Leerformeln und moralischen Appellen argumentieren.

Ich könnte Ihnen auf Ihre Frage noch eine andere Antwort geben: Sowohl der Schulentwicklungsbegriff als auch der Qualitätsbegriff sind derart vage und vieldeutig, dass man darunter sehr, sehr vieles verstehen kann. Dann nimmt es nicht Wunder, wenn unter dieser Vielfalt sich auch immer wieder mal Erfreuliches entdecken lässt.

Oder ich könnte Ihnen auch mit einer Gegenfrage antworten: Wie erklären Sie es sich, dass trotz einer 20-jährigen Schulentwicklungswirkungsgeschichte, Schüler nicht erfolgreicher lernen, Lehrkräfte weniger Belastungen empfinden? Woher kommt der Frust und Verdruss vieler Kollegen? Sind das nur Dummköpfe oder Drückeberger? Wieso wird „Lehrergesundheit“ zu einem wichtigen Thema? Was haben die Schulprogramme bewirkt? Was haben die Modellversuche in NDS und NRW unter dem Strich gebracht? Nichts für ungut! War nur ne Frage. Sie sind der Interviewer!

 5. Auch wenn Sie den Begriff und die derzeitigen Ansätze zur „Schulentwicklung“ kritisieren, konstatieren Sie Handlungsbedarf in deutschen Schulen. Wie könnte es aus Ihrer Sicht ganz konkret gesagt (mit einem griffigen Ausdruck, kurz & verständlich) besser gehen?

Ihre Frage ist legitim und berechtigt. Den Planungs- und Handlungsbedarf gibt es zweifellos. Aber bitte bedenken Sie auch hier, dass ich für die kritische Auseinandersetzung mit der Schulentwicklungsidee fast 200 Seiten gebraucht habe. Da werde ich die konstruktive Alternative, wenn sie sorgfältig und glaubhaft erläutert werden soll, nicht mit wenigen Worten darstellen können. Ich will mich aber nicht völlig drücken. Um schulische Arbeit erfolgreich reformieren zu können, brauchen wir ein klares Gegenstandsverständnis von Schule, geklärte Menschenbildannahmen, klare Zielvorstellungen bzw. Bezug zu eindeutigen Desideraten, einen eindeutigen Sprachgebrauch als dringende Voraussetzung für stimmiges Denken, Planen und Evaluieren, stimmige (nicht-eklektische) Konzepte und Theorien, empirische Bewährungskontrollen, eine auf Interventionsstudien beruhende Bildungsforschung und immer wieder den Kontakt zur Praxis und ihrer Expertise.

 Sehr geehrter Herr Prof. Schlee, ich danke Ihnen für dieses Interview.

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