Ist Suizid ein Tabuthema? Darf man über Suizidgefahr und selbstgefährdendes Verhalten öffentlich reden? Und wie ist es dann noch darüber hinaus in der Schule? Kommt das Thema in der Schule überhaupt vor?
Wenn so viele Menschen täglich in einem Gebäude zusammenkommen, dann tauchen nahezu alle Themen menschlichen Verhaltens auf. Auch dieses Thema. Nun bin ich auf ein Buch gestoßen, das mir einen guten ersten Zugang vermittelt hat. „Suizidgefahr?“ von T. Teismann und W. Dormann.
Eines vorweg: wenn Du, ja Du!, gerade jetzt darüber nachdenkst, Dir das Leben zu nehmen und Du zufällig hier auf der Seite gelandet bist, dann sprich mit einer anderen Person darüber. (Lies ggf. das Buch, über das ich gleich schreibe.) Eine so weit reichende und unumkehrbare Entscheidung sollte nicht unmittelbar und unüberlegt getroffen werden.
Suizid – Ein Schulthema?
Ist das wirklich ein Thema für die Schule, in der Schule? Machen wir es dadurch nicht noch schlimmer? „Darüber darf man doch in der Schule nicht reden!“ – „Darum müssen sich andere kümmern.“
Eine Statistik, die ich im Buch gelernt habe, schon hier: Jährlich nehmen sich (lt. Statistik) etwa 0,01% der Menschen in Deutschland das Leben. Die Zahl der Jugendlichen ist noch einmal geringer. Allerdings dürfte die Zahl der Suizidversuche um ein Vielfaches (laut Buch 10-20fach) höher sein. Und wenn uns im Schulalltag dieses Thema unvermittelt erreicht, stehen wir zunächst einmal erschrocken da. Wir möchten Hilfe anbieten, Schritte aufzeigen können hin zu einem lebenswerten, schönen Leben inmitten dieser existenziellen Krise eines jungen Menschen, der uns in der Schule offenbart, wie verzweifelt er oder sie ist.
Die Tiroler Seite zur Krisenintervention an Schulen gefällt mir gut. Aber ich brauchte auch noch konkretere Erläuterungen.
Im Buchgeschäft suchte ich so zweierlei: Hilfe aus Sicht der Betroffenen und Hilfe für Angehörige. Das ist im Buch „Suizidgefahr?“ der Fall. Beides in einem Buch? Ja, auf den zweiten Blick war es gut so. Denn als beruflich Angehöriger will ich die Ansprache, die möglichen Wege von Betroffenen erahnen, verstehen. Zugleich auch selbst Hilfen finden. Das Buch ist dazu kurz und gut lesbar.
Gliederung des Buches
Das Buch ist in fünf Abschnitte unterteilt:
- „Suizidalität“ – was ist das?
- Wie entsteht „Suizidalität“?
- Was kann man dagegen tun?
- Was kann ich als Angehöriger tun?
- Hilfen für Betroffene und Angehörige
Anhang: Literatur, Glossar, Arbeitsblätter
Das dritte Kapitel ist dabei das umfangreichste mit 45 Seiten.
Inhalt
Im ersten Kapitel werden die Hintergründe von „Suizidalität“ erläutert und ein drei Phasen-Modell vorgestellt (Erwägung, Ambivalenz, Entscheidung). Für jede der Phasen werden Hinweise für Betroffene formuliert. Die Sprache ist dabei klar und oft auch sehr direkt. In allen Kapiteln werden Mythen zum Suizid erläutert und widerlegt. Ich ertappte mich, dass ich auch einigen dieser Mythen aufgesessen war. Sehr interessant auch in diesem Kapitel die Faktenlage, d.h. die (sehr kurze) Darstellung von Studienergebnissen oder Statistiken.
Im zweiten Kapitel werden neben drei Risikofaktoren für „Suizidalität“ fünf Themen genannt, die Betroffene als schwerwiegend wahrnehmen. Die Inhalte werden im Buch an unterschiedlichen Stellen wieder aufgegriffen bzw. wiederholt. Aber ich finde das richtig. Denn in Stresssituationen liest man sicher kein Buch von vorne bis hinten durch.
Das dritte Kapitel „Was kann man dagegen tun?“ enthält unterschiedliche Strategien, was man konkret tun kann oder was zu tun ist. Hierzu zählen Fragebögen, Checklisten, Schreibaufträge oder Erläuterungen, was unterschiedliche Hilfen (z.B. Therapie, medikamentöse Behandlung) bedeuten. Die Autoren schrecken natürlich auch nicht vor klaren Ansagen zurück.
Im kurzen vierten Kapitel ist die Botschaft auch sehr deutlich. Das tat mir gut. („Reden Sie nicht um den heißen Brei, sondern fragen Sie direkt, aber nicht auf wertende, sondern zugewandte Weise.“) Hier gibt es komprimierte Ratschläge, was man tun kann und was man nicht tun sollte.
Zum Schluss dann eine hilfreiche Übersicht an Beratungsstellen, Telefonnummern und Links. Einige habe ich unten aufgeführt.
Wie soll man das Thema in der Schule angehen?
ich weiß es nicht. Vielleicht gibt es keine eindeutige Antwort. Und das Buch ist ja auch nicht aus schulischer Sicht geschrieben worden. Mir ist bei der Lektüre noch einmal klar geworden, dass natürlich auch auf diesem ganz und gar nicht leichten Gebiet ein offenes Ohr und zugewandtes Herz hilft. Doch wie weit reichen in der Schule unsere Möglichkeiten? Wie weit wollen&können wir verantwortlich sein, wie weit sind wir verantwortlich?
Erste Schritte bei uns: wir bauen jetzt ein Krisen-Reflektions-Team auf. Es soll aus 2-3 festen Lehrern, der Schulsozialarbeit und einem Mitglied der Schulleitung bestehen. Ggf. könnte der schulpsychologische Dienst hinzukommen. Zweitens natürlich und immer: Schulsozialarbeit stärken. Werbung machen beim Schulträger, die Bedeutung von Schulozialarbeit hervorheben. Schließlich und doch nicht zuletzt: wertschätzende Kommunikation in der Schule ausbauen. Einmal mehr hinhören, einmal mehr das Gespräch aufnehmen, sich gegenseitig (Lehrer, Schüler) stärken.
Soweit die Theorie. Möge die Praxis uns gewogen sein.
Fazit
Wer noch keinen Zugang zum Thema hat und ein erstes Grundgerüst sucht, ist vorbereitend mit diesen Buch gut aufgehoben und kann sich dem vermeintlichen Tabu nähern. Jedes Buch ist zugleich kein Ausgleich, kein Ersatz für professionelle Beratung und Hilfe. Wer von diesem Thema also betroffen ist, selbst oder als Angehöriger, beruflich Zuständiger, der sollte sich externe Hilfe von Ort holen: 112 anrufen, Notaufnahmen eines psychiatrischen Krankenhauses, Telefonseelsorge, speziell für Schüler: Nummer gegen Kummer oder Stellen nach Bundesländern sortiert auf Neuhland. anschauen.
Das Buch „Suizidgefahr?“ von Teismann/Dormann kostet bei Amazon 12,95€ und hat knapp 130 Seiten.
Update (30.5.18)
Was so ein Post doch Gutes auslösen kann. Danke.
ich habe inzwischen
– eine Seite zur Suizidprävention auf dem Landesbildungsserver BW gezeigt bekommen.
– Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft (PDF, 56 Seiten) der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften zum Thema gesendet bekommen. Darin heißt es:
Als Ort von Präventionsmaßnahmen kommt im Kindes- und Jugendalter dabei der Schule eine besondere Bedeutung zu, da Risikoevaluationen oder Präventionsprogramme dort kostengünstig und effektiv durchgeführt werden können (Shaffer & Gould, 2000).