Arbeitszeiterfassung in Schulen ist grad ein kontroverses Thema. Die KMK möchte das lieber nicht und der Bildungsrat von unten nun aber unbedingt schon. ich stehe dazwischen und möchte eigentlich keine vollständige Arbeitszeiterfassung, aber ich glaube aus anderen Gründen als die KMK. Ein Vorschlag:
Zunächst ist unbestritten, dass Lehrerinnen und Lehrer vor Überlastung geschützt werden müssen. Eine strikte Arbeitszeiterfassung bringt jedoch Herausforderungen mit sich, die sich nicht nur auf das Personal, sondern auch auf die Qualität der Bildung auswirken können.
Was ist los?
Schon 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof, dass die Arbeitszeit von Arbeitnehmerinnnen und -nehmen zu erfassen ist. Immer und generell. Im September 2022 sagte dann das Bundesarbeitsgericht (sinngemäß): „Nach unserer Kenntnis tritt… ist das sofort, unverzüglich.“ Also: hektische Betriebsamkeit. Wie machen wir’s?
Die KMK und die Unsichtbarkeit der Arbeitsbelastung
Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat vor Kurzem darum gebeten, den Schulbereich von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung auszunehmen. Ein möglicher Grund für diese Haltung könnte die Befürchtung sein, dass eine genaue Dokumentation der Arbeitszeiten unangenehme Wahrheiten ans Licht bringen könnte. Wenn jede einzelne Arbeitsstunde genau erfasst wird, wird auch sichtbar, wie viele Überstunden Lehrkräfte tatsächlich leisten und damit: dass der tatsächliche Bedarf an zusätzlichen Lehrkräften noch höher ist.
Es gibt den Lehrermangel schon, er wird sehr wahrscheinlich größer und auch andere Ressourcen sind nun mal begrenzt. Zumindest erscheint das im Finanzhaushalt-Bildung so zu sein. Da könnte eine solche Transparenz heikel sein. Die KMK muss befürchten, dass eine genaue Arbeitszeiterfassung den politischen Druck erhöht, noch mehr Ressourcen für Schulen bereitzustellen, die nicht mal ansatzweise im eh schon zu schmalen Budget vorgesehen sind.
Flexibilität ist unser zweiter Vorname
Die Freiheiten, die Schulen genießen, sind oft entscheidend für den pädagogischen Prozess. Lehrkräfte & Schulen müssen die Freiheit haben, Unterrichte und schulische Belange flexibel zu gestalten. Auch um zusätzliche Zeit für Projekte oder einzelne Schülerinnen und Schüler spontan zu ermöglichen und mit unvorhergesehenen Situationen adäquat umzugehen.
Die zeitliche Flexibilität im Schulalltag fördert die Kreativität und Innovation. Lehrkräfte können neue Themen ausprobieren, interdisziplinäre Projekte anstoßen oder spontan auf aktuelle Ereignisse im Unterricht eingehen. Diese Dynamik würde in einem regulierten Umfeld, in dem jede Minute gezählt wird, reduziert.
Ich möchte keine „Pfennigfuchser“-Mentalität entstehen lassen, so dass sich die Lehrkräfte mehr auf die Uhr als auf den Unterricht selbst konzentrieren. Zeiteffektive Schule… In der Schule darf der Fokus nicht verrutschen: Gute Schule, guter Unterricht sollte im Mittelpunkt stehen – nicht die genaue Anzahl der Arbeitsstunden. Wir begeben uns mit dem Start einer Arbeitszeiterfassung in einen jahrelangen Strudel an Diskussionen, was wieviel Arbeitszeit wert ist. Man möge mal in Hamburg anfragen, wie lange man sich mit den Faktoren für die Fächer beschäftigt hat. Und mit einer vollständigen Arbeitszeiterfassung würde die Liste der Tätigkeiten, die irgendwie faktorisiert werden müssen, deutlich verlängert.
War da noch jemand?
Wie wirkt sich Arbeitszeiterfassung der Lehrkräfte eigentlich auf Schülerinnen und Schüler aus? Mich wundert, dass die in der Diskussion so gar nicht auftauchen. Auch im Papier des Bildungsrats von unten kommt das Wort „Schüler*innenschaft“ nur einmal in der Zusammenfassung des Sachverhalts (Seite 1) vor. Verstehen Schülerinnen und Schüler das, wenn Lehrkräfte verstärkt auf die Uhr schauen? Was macht das mit der pädagogischen Beziehung, wenn alle Gespräche bemessen werden?
Trotzdem:
Der Schutz der Lehrkräfte bleibt wichtig
In einem Berufsfeld, das von vielen immer noch ganz oft als „Berufung“ betrachtet wird und in dem die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit, zwischen Nachmittagsunterricht, Schreibtisch, Telefon, Bett und Computer so fließend sein können, wie in wenigen anderen Berufen, da müssen auch Lehrkräfte vor Überlastung oder Ausbeutung geschützt werden.
Darüber hinaus könnte eine genaue Arbeitszeiterfassung auch Fragen der Bezahlung klären. Schließlich könnte man mit einer genauen Stechuhr auch Überstunden erfassen – und vergüten. Dies wäre ein Schritt hin zu mehr Fairness. ich glaub aber kaum, dass dieser Aspekt wesentlich dazu beitragen würde, den Beruf attraktiver zu machen. Es geht nicht ums Geld.
Letztlich geht es um die Nachhaltigkeit des Berufs der Lehrkräfte. Sie bilden die wichtigste Grundlage für ein funktionierendes Bildungssystem. Die Qualität des Unterrichts hängt direkt von Gesundheit und Wohlbefinden der Lehrkräfte ab. Wir sollten darauf achten, dass wir unseren Beruf langfristig und gesund ausüben können. Eine Arbeitszeiterfassung könnte dabei helfen, Belastungsgrenzen, individuell und gesamtsystemisch, zu identifizieren.
Wir arbeiten täglich zusammen?
Verrückte Idee – wir arbeiten wie andere Arbeitnehmer/innen auch – von morgens bis nachmittags/abends in der Schule zusammen. Wir gehen morgens in die Schule, bedienen beim Betreten der Schule das Arbeitszeiterfassungsgerät, arbeiten und gehen am Abend wieder nach Hause. Die Arbeit bleibt dort, Abende und Wochenenden sind im Wesentlichen arbeitsfrei und es gibt 30 Urlaubstage, die während der unterrichtsfreien Zeit genommen werden. An allen anderen Tagen arbeiten wir in der Schule.
(ok, Ende des humorvollen Teils)
Eine hybride Lösung: Grundzeit plus Flex?
Es ist wesentlich, eine angemessene Balance zwischen Verantwortung und Freiheit zu finden. Zeitmanagement-Hilfsmittel könnten dabei helfen, Klarheit und Verantwortung zu fördern, jedoch sollten sie nicht die Flexibilität, Kreativität und Menschlichkeit einschränken, die den Bildungsbereich so einzigartig machen.
Wie wäre also eine Mischung aus einer Grundarbeitszeit und flexiblen Bestandteilen? Dabei würden wesentliche Grundarbeitszeiten festgelegt, innerhalb derer Lehrkräfte ihre Anwesenheit eigenständig dokumentieren. Zusätzlich gäbe es auch flexible Zeiteinheiten, in denen es den Lehrkräften freistünde, ihre Zeit nach eigenem Ermessen zu nutzen. Diese flexiblen Zeiten könnten z.B. für konzeptionelle Arbeiten oder beliebige andere pädagogische Aktivitäten eingesetzt werden, ohne dass sie strikt festgelegt oder erfasst werden müssten. (Über Urlaub reden wir ein anderes Mal.)
Durch diese hybride Lösung könnte die nötige, notwendige Transparenz geschaffen, naja, erhöht werden, ohne die Flexibilität einzuschränken, die für Schule und Unterrichts und das Wohl der Schülerinnen und Schüler so entscheidend sind.
— Weitere Artikel zum Thema:
- vom geschätzten Herrn Kuban: Arbeitszeit in der Schule erfassen?
- im Halbtagsblog: Arbeitszeiten in der Schule erfassen?
- reine Leere: Lehrerarbeitszeit – gemessen statt gefühlt
- Herr Mess: Arbeitszeiterfassung für Lehrkräfte?
5 Gedanken zu „eigentlich keine Arbeitszeiterfassung (aber)“
Sehr schönes Gedankenspiel! Beim Durchlesen der ganzen Beiträge merkt man, dass man im Grunde dann schon dieselben Für und Wider-Argumente hat… und sich die wenigsten zu einem definitiven Ja oder Nein durchringen können.
Das von dir angesprochene Flexmodell wäre ein guter Kompromiss, allerdings existiert der ja schon mehr oder weniger durch die festgelegten Unterrichtsstunden, die jeder absolvieren muss. Wieviel Zeit du zuhause für diese Stunden und das ganze drumherum investierst, ist ja letztlich deine Sache.